Heute bin ich mit dem Unternehmer und Unternehmensberater Stefan Fourier aus Hannover verabredet. Ich will mich mit ihm über die Frage, was Kunst in Unternehmen bewirken kann, unterhalten. Ich bin gespannt auf seinen Blickwinkel!
Stefan Fourier >>>
Guido Kratz:
Lieber Stefan Fourier, ich freue mich dass du hergekommen bist, um dich mit einem sehr komplexen Thema zu beschäftigen. Es geht um „Kunst in Unternehmen“. Ich möchte dieses Thema mit dir besprechen, weil ich selbst schon seit vielen Jahren „Kunst in Unternehmen trage“. Ich bin sehr daran interessiert, was es für Meinungen dazu gibt. Daher bin ich sehr gespannt auf deine Sichtweise. Von dir weiß ich, du bist Unternehmensberater, du bist gleichzeitig auch Unternehmer und bist Autor einiger Bücher. Was genau machst du in Unternehmen?
Stefan Fourier:
Ich beschäftige mich im Grunde immer mit der Frage, wie kann man Veränderungen, die notwendig sind, so unterstützen, dass sie tatsächlich leicht und mit den Menschen gemeinsam realisiert werden. Wie kann man das am geschicktesten machen. Das ist mein Hauptthema. Es bestehen Anforderungen an die Unternehmen, oft große Herausforderungen, die mitunter ja recht existenziell sind. Die immer auch vom Markt kommen, also von außen kommen. Diesem Veränderungsdruck müssen die Unternehmen gerecht werden, das heißt sie müssen Herausforderungen lösen und müssen das in einer bestimmten Art und Weise tun, zum Beispiel indem sie eine andere Art der Zusammenarbeit pflegen. Man hat dann oft den Begriff der Unternehmenskultur bemüht, der das alles subsumiert. Wobei oft kann das niemand so richtig definieren, was das denn eigentlich ist: Unternehmenskultur. Es gibt dafür sehr unterschiedliche Definitionen. Aber letzten Endes geht es immer um die Frage: Wie aktiviert man die Menschen, dass sie bestimmte Herausforderungen meistern können? Und im Unternehmen möglichst gemeinsam, so, dass niemand auf der Strecke bleibt, so, dass man miteinander zu guten Lösungen kommt und das Unternehmen in eine gute Zukunft führen kann. Das ist der Anspruch, mit dem wir antreten.
Man könnte natürlich auch sagen, es geht um Motivation. Wie erzeugt man sie. Wenn man sich das mal anguckt, ist es die Frage: Wie kriegt man Menschen aus dem Müssen-Modus in den Wollen-Modus? Also in den Modus, wo sie eine Aufgabe lösen wollen. Wo sie sich bestimmten Herausforderungen stellen wollen. Wo sie Spaß daran haben. Denn nur dann gehen sie mit Herzblut rein. Wenn man das erreichen will, das ist wie Leute zu veranlassen, dass sie auf einen hohen Berg steigen. Das machen sie nicht, weil sie irgendwelche Zahlen haben, zum Beispiel so und so viele Meter muss ich da erreichen, sondern das gelingt nur über Emotionen. Also sie müssen ein Gefühl dafür entwickeln, entweder für die momentane Situation – im Tal ist es dunkel und neblig – also die momentane Situation ist nicht gut. Die Situation auf dem Gipfel ist schön. Da kann man weit gucken und die Sonne scheint. Diesen Unterschied müssen sie fühlen! Letzten Endes passiert dieser Wechsel, vom Müssen-Modus in den Wollen-Modus, über Gefühl. Und damit sind wir bei Kunst, denn die Frage ist immer: Wie kann ich Emotionen beeinflussen, wie kann ich Emotionen aufbauen, wie kann ich Emotionen entwickeln? Hier bietet Kunst einen anderen Zugang als über Zahlen oder über den Kopf zu gehen. Im Grunde muss man den Bauch, das Herz erreichen. Das ist sicherlich sehr unterschiedlich und da muss man auch viel probieren. Der eine hat mehr Affinität für Musik, der andere mehr für bildende Kunst, ein anderer liest lieber etwas. Aber die Beschäftigung mit solchen Themen schafft andere Zugänge. Das Schwierige dabei ist, dass es indirekt wirkt. Das ist eben kein Zigarettenautomat, wo man oben fünf Euro rein steckt und unten kommt eine Schachtel heraus. Sondern da macht man eine Reihe Dinge und berührt damit Menschen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie sich ab dem Moment anders verhalten. Das kann sein, oder es kommt einen Monat später. Das ist die besondere Schwierigkeit bei diesen Zugängen, mit denen man dann zu tun hat.
Guido Kratz:
Man könnte dann ja im Prinzip auch sagen, diese Motivation, vom Müssen ins Wollen zu kommen, das hat ja auch viel mit „Wie tue ich etwas“ zu tun. Ich stelle mir vor, ich habe jetzt die Aufgabe, einfach nur zehn Leute heute Morgen anzurufen, die muss ich für mein Produkt interessieren, und ich mach es im Müssen-Modus. Okay, dann kann man sich vorstellen, wie das geht. Oder ich mache es mit Herzblut und dann gehe ich ans Telefon anders heran. Du bist ja Unternehmer und Unternehmensberater, du müsstest ja beide Seiten der Medaille kennen. Mitarbeiter zu motivieren, ist das eine Beratungsaufgabe oder eine Aufgabe des Unternehmers?
Stefan Fourier:
Das ist nur eine Unternehmeraufgabe. Jeder, der Menschen führt, hat die Aufgabe sie zu motivieren. Führung ist Menschenführung letzten Endes. Das kannst du als Berater gar nicht leisten. Das ist gar nicht die Aufgabe. Du kannst dem Unternehmer oder dem Geschäftsführer dabei helfen, dass er diesen Job gut macht, wenn er dort Defizite hat. Wenn er Menschen nicht erreicht, wenn er es vielleicht noch gar nicht verstanden hat, dass er auf so einer Ebene an Menschen herantreten muss, und dass er einfach mal versteht, wie er Vertrauen aufbaut. Dass man da also zunächst einmal selbst Vertrauen einbringen muss. Es gibt nun einmal ein paar Dinge aus den Sozialwissenschaften, die der normale Manager gar nicht drauf hat. Ihn dabei zu unterstützen, ist die Sache des Beraters. Der Berater wird nicht selbst die Aufgabe des Motivierens übernehmen. Nein, das ist Sache der Führungskraft, des Unternehmers. Der Berater kann ihn dabei unterstützen. Klar steckt dort manchmal auch eine Falle, wenn man als Externer in ein Unternehmen kommt. Da ist es schon passiert, dass die Leute sich mit dir als Berater verbinden, also dass du da einen emotionale Verbindung zu den Menschen in der Fabrik bekommst und sie folgen dir dann auch. Das ist ein Stück weit unvermeidbar und vielleicht manchmal auch ganz gut. Dann geht es leichter, um zum Beispiel mal ein Projekt zu stemmen. Aber als Berater muss man dafür sorgen, dass sich dieser Zustand an den nominellen Vorgesetzten wieder überträgt. Er muss in diese Rolle kommen, selbst wenn ich sie ersatzweise mal für eine gewisse Zeit übernehme. Am Ende muss das im Unternehmen bleiben. Es geht ja darum dass die Organisation lernt und sich weiterentwickelt und die Menschen dort sich miteinander weiterentwickeln.
Guido Kratz:
Ein Beratungsprozess ist ja auf Zeit angelegt, entnehme ich jetzt daraus. Man geht ja dann wieder raus und denkt: „Hoffentlich muss man nicht so schnell wiederkommen“. Ihr wendet ja auch den Blick von außen an, schätze ich. Oder gehst du da mit einer fest eingestellten Konfiguration im Kopf hinein, so und so muss ich das jetzt machen, oder entwickeln sich die Vorgehensweisen erst im Unternehmen?
Stefan Fourier:
Es entwickelt sich immer dort. Wir haben ja keine Lösungen. Ich kenne in der Regel die Sachproblematik nicht so gut wie die Leute aus der Firma selbst. Das heißt, die Sachlösung wird immer dort entstehen. Was ich einbringe in eine Zusammenarbeit ist, dass ich weiß, wie solche Prozesse grundsätzlich ablaufen. Zum Beispiel wie man an ein sehr komplexes Projekt herangeht. Dass man auf eine bestimmte Weise Planungen macht, dass man auf eine bestimmte Weise anders kommuniziert miteinander. Wie man Motivation aufbaut, wie man die Ziele so setzt, dass sie für die Menschen interessant werden. Das ist mein Know-how beziehungsweise das meiner Kollegen und das ist das, was wir einbringen. Man muss immer unterscheiden zwischen der Sachebene, also der Herstellung von Schrauben oder Pillen, und der Prozessebene, auf der wir arbeiten. Die Prozessebene beschäftigt sich damit, wie man von einem Zustand, wo keine Lösung da ist, zu einem Zustand von Lösung kommt. Da gibt es verschiedene Schritte, denen man folgt, und dort ist unser Know-How.
Guido Kratz:
Was wäre denn dann der Unterschied zu einem künstlerischen Prozess? Mal angenommen, ein Künstler würde eingeladen in das Unternehmen und sollte jetzt auch eine Veränderung bewirken. Der künstlerische Prozess hat ja auch etwas prozesshaftes. Ist er ähnlich – oder wo unterscheidet es sich?
Stefan Fourier:
Ich glaube, es gibt eine große Gemeinsamkeit: Man weiß vorher nie genau, was rauskommt! Insofern sind wir Berater auch ein bisschen Künstler. Wir wissen, dass etwas herauskommt, aber was das genau ist, das wissen wir nicht. Beratung in komplexen Situationen – und das sind die wirklich spannenden Aufgabenstellungen – ist ein sehr schöpferischer Prozess. Es ist ein offenes Werden. Eine Problemsituation in einem Unternehmen, zum Beispiel wenn die Firma übernommen wird, neue Kollegen kommen rein, da muss eine Integrationsleistung erbracht werden. Die Probleme die dabei entstehen, die konkreten Probleme, die kennt man vorher nicht. Die werden erst klar, wenn sie entstehen. Das heißt, man ist immer in einer völlig offenen Situation. Insofern ist es ein bisschen so ähnlich wie bei einem Künstler. Der Unterschied vielleicht zu dir als bildender Künstler ist eher technisch-methodisch. So wie du bestimmte Techniken beherrschst und auch übst und vervollkommnest, damit am Ende bestimmte Figuren dabei heraus kommen, keramische Figuren oder so, muss ich natürlich auch Techniken und Methoden beherrschen, um zum Ergebnis zu kommen – Sozialtechniken. Ein Beispiel: Für ein bestimmtes Problem sollen Ideen generiert werden. Also wird ein Brainstorming gemacht. Man muss so einen Prozess auf eine ganz bestimmte Weise nach einem festgelegten Schema durchführen, damit man zum Erfolg kommt. Das sind die Techniken, die wir beherrschen. Insofern ist es ähnlich, es sind nur andere Techniken oder Methoden aber das besondere und einigende Gemeinsame ist, dass es ein offener Prozess ist.
Mit dem im Übrigen viele Leute in den Unternehmen Schwierigkeiten haben. Sie wollen gerne vorher wissen, was herauskommt. Aber das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Also man kann da eine Idee für eine Lösung haben, nur es kann ganz anders kommen. Je komplexer unsere Welt wird – wir erleben es ja an vielen Stellen, in der Gesellschaft, in der Politik, in den Unternehmen – also je komplexer unser Welt wird, desto mehr Überraschungen hält sie für uns bereit. Und wir brauchen für jede Überraschung eine Lösungsidee. Die können wir aber erst entwickeln, wenn die Überraschung kommt. Vorher geht nicht! Erst wenn die Überraschung kommt, muss ich die Idee entwickeln. Wenn ich das vorher mache, kann es genau die falsche Lösung sein. Und das ist beim Künstler genauso. Du fängst an und hast eine grobe Vorstellung. Und erst nach dem Anfangen machst du etwas Konkretes. Ich habe bei meiner Arbeit am Anfang, bevor ich beginne, auch eine grobe Vorstellung, wie man von A nach B kommt bei einem Projekt oder einer Integration, aber im Detail ist es dann immer völlig unterschiedlich und vom jeweiligen Moment bestimmt.
Guido Kratz:
Ich glaube, dass ein Künstler noch ein Stückchen weiter gehen kann, weil er auch die Art und Weise, wie man etwas macht und auf welche Ideen man kommt, nochmal ein Stück weit offener lässt. Und das auch darf, weil oft geht es ja darum, ein ganz anders Bild von sich selbst zu entwickeln. Von einer Sache einen anderen Begriff zu bekommen. Ein Beispiel was ich erzählen möchte ist vom Tango Argentino, meine große Leidenschaft, das mache ich schon sehr lange. In einem meiner Netzwerkbildworkshop ging es um das Thema Führung. Es sollte ein Bild zu diesem Thema gemalt und entwickelt werden. Ich habe zum Thema Führung bei dieser Gelegenheit mal etwas vom Tango erzählt. Beim Tango Argentino führt der Mann und die Tanzpartnerin folgt. Dort wird Führen und Folgen überhaupt nicht als etwas Getrenntes gesehen, sondern es ist eine Einheit. Das sorgte bei den Teilnehmern für viel Erstaunen, es ist eine Einheit, das Führen und Folgen. Jemand der führt – wenn ihm oder ihr keiner folgt, dann bleibt er alleine und keiner würde merken, dass er führen wollte.
Stefan Fourier:
Das ist sehr interessant, denn das gleiche Bild benutze ich auch, aber nicht aus dem Tango. Ich muss ja Impulse setzen, damit Menschen eine andere Sichtweise gewinnen können. Also biete ich mitunter auch mal völlig andere Sichtweisen an, stelle eine Sache einfach mal auf den Kopf. Und gerade beim Thema Führung ist einer meiner Sätze zu sagen: Das wichtigste am Führen ist das Folgen! Es geht nicht ums Führen, es geht ums Folgen! Da gibt es auch ein paar Übungen, die man in diesem Zusammenhang machen kann, damit der Unterschied fühlbar wird. Das wirft das ganze Thema dann sozusagen auf den Rücken, es ist plötzlich anders herum. Es ist deswegen auch nicht richtiger, es ist nur anders. Und weil es anders ist, gibt es einen neuen Blick auf das Thema. Damit entwickelt sich etwas Neues im Führungsverhalten und im Verständnis der Leute. Es ist eine bestimmte, methodische Vorgehensweise, Dinge anders herum zu drehen. Ich muss es mir als Externer und in meiner Funktion als Impulsgeber schon herausnehmen, Sachen komplett anders zu sehen, als es üblich ist. Das ist der Wert an der Sache. Und so ist das auch schon ein bisschen künstlerisch.
Guido Kratz:
Als ich den Tango vor vielen Jahren erlernte, fand ich es auch erstaunlich, dass ich einerseits das Führen erlernte. Mein Partnerin musste aber genauso intensiv das Folgen erlernen. Und ich glaube, dass sich diese Analogie auch auf viele Unternehmen oder Organisationen übertragen lässt: Folgen ist eine Kunst und eine sehr komplexe Tätigkeit.
Stefan Fourier:
In vielen Unternehmen wird sie vernachlässigt, wird das eher abgewertet. Es gibt so ein wunderbares Spiel, wo wir das dann auch fühlbar machen: Da wird ein Seil zusammen gebunden, so dass es endlos wird. Dann bekommen die Leute die Augen verbunden, kriegen ein Stück Seil in die Hand und müssen jetzt mit verbundenen Augen dieses Seil in einem exakten Quadrat ablegen. Das führt dann natürlich erst einmal dazu, dass drei oder vier Leute tolle Ideen haben, wie das am besten funktioniert und alle reden durcheinander. Das heißt, viele führen, aber keiner folgt. Und es funktioniert nicht. Es funktioniert erst dann, wenn man sich einigt, egal wer jetzt das Ansagen macht, die anderen sind erst einmal ruhig und machen genau das, was er sagt. Egal wer da führt, das ist wirklich völlig egal, das Ergebnis wird dann gut, wenn die anderen einfach folgen. Bei dieser Übung, die ganz simpel ist, wird dieser Zusammenhang so richtig deutlich. Dass es für den Erfolg eigentlich viel wichtiger ist zu folgen! Und nicht immer in den Widerspruch zu gehen, weil ich jetzt führen will, weil ich der Größte bin und so weiter. Denn das ist ja oft der Antrieb dafür, dass so viele nach vorne wollen. Denn letzten Endes ist das Thema Führung im Image, auch in der Bezahlung, positiv belegt ist und das Folgen nicht.
Wir arbeiten mit so einem Modell, bei dem es um die sogenannten Team-Archetypen geht. In jedem Team gibt es vier Archetypen: Es gibt den Führer, den Macher, den Mitmacher und den Opponenten. Das sind keine Wertungen, sondern das ist wertfrei! Jeder hat eine unterschiedliche Funktion zu erfüllen und wenn diese Funktionen nicht erfüllt sind, dann funktioniert das Team nicht. Und da ist eben der Mitmacher ganz wichtig, damit überhaupt etwas passiert. Das Interessante ist: der Führer macht nichts, der Macher macht. Das ist der eigentliche Manager, er kontrolliert, er redet mit den Leuten. Der Führer ist viel symbolischer. Bei ihm geht es um Sinnfragen, er setzt Wertmaßstäbe. Das ist Führung! Führung hat mit Wertmaßstäben zu tun. Aber viel mehr im Hintergrund, als das üblicherweise gesehen wird. Mit diesen vier Archetypen können wir das sehr gut deutlich machen, indem wir sagen der Führer macht nichts, der Macher bestimmt, der Mitmacher macht mit und ist dadurch extrem wichtig und der Opponent stellt infrage und ist sozusagen der Pol für etwas Neues, ein Korrektiv, er ist der Träger von etwas Neuem, von Innovationen, die kommen von ihm – wenn er konstruktiv ist. Das ist sehr spannend.
Guido Kratz:
Das Scheitern liegt sozusagen gleich mit drin!
Stefan Fourier:
Genau! Dieses simple Modell gehört zu den Werkzeugen, das gehört in unserem Beruf zum Handwerkszeug. Wir haben insgesamt neun solcher Modelle. Sie bilden unser wichtigstes Instrumentarium, und damit können wir offene Prozesse gut steuern, sozusagen inszenieren. Ich spreche gerne von Inszenierung, Veränderungen kann man inszenieren. Es gibt ein Buch von mir, “Drei Oscars für den Chef“, wo ich diesem Inszenierungsansatz folge. Es ist ja so wie bei einem Film. Wie inszeniere ich, dass Dinge passieren? Denn es ist immer gut, wenn es wie von alleine passiert.
Guido Kratz:
Beim Tango ist mir eigentlich erst richtig aufgefallen, das alles zusammengehört. Das klingt jetzt ein wenig seltsam, aber ich meine damit, dass das Tanzpaar, also Führender und Folgende, die Musik, das Publikum und der Raum indem das stattfindet, zusammengehört. Wenn eines von diesen Dingen fehlt, dann ist es unvollständig und es funktioniert nicht mehr in der Weise, in der es funktionieren soll. Man kann zwar auch im Freien tanzen oder ohne Publikum, aber es ist dann nicht mehr dasselbe, denn das Publikum bei der Tanzveranstaltung, der Milonga, ist ja auch gleichzeitig Tänzerin und Tänzer. Daraus habe ich geschlossen, das auch bei einem gemalten Bild alles zusammen gehört. Also die Farbe, der Untergrund, die Idee, die Ausstellungsräume das Publikum. Vor diesem Hintergrund gehören viele Dinge zusammen, die man sonst getrennt voneinander betrachtet. Das ist auch das Wesen einer künstlerischen Tätigkeit, dass man Dinge zusammenbringt, um daraus etwas Ganzes zu schaffen. Können Künstler oder Künstlerinnen bei solchen Prozessen, die es ja auch in den Unternehmen gibt, hilfreich sein? Können sie über die Beratung hinaus unterstützend wirken?
Stefan Fourier:
Wir haben ein wunderbares Beispiel mit Anja Weiss (Graphikerin und Illustratorin) erlebt, wo durch ihr Graphic Recording der Diskussionsprozess während des Workshops und die Ergebnisse sofort bildhaft umgesetzt werden, und zwar sowohl wenn sie sehr genau umsetzt – bildhaft, das was gesagt wird – oder auch wenn sie ungenau umsetzt, weil sie es vielleicht anders verstanden hat. In jedem Fall führt es zu einer Wechselwirkung, zu einer Diskussion innerhalb der Gruppe auf einer ganz anderen Ebene. Diese Wirkung tritt unmittelbar ein. Wir haben einen Workshop gemacht über zwei Tage, wo sie parallel dazu genau diese Darstellung gemacht hat. Das ist ja eine künstlerische Darstellung dessen, was da passiert. Es hat während des Workshops dazu geführt, dass noch einmal auf einer anderen Ebene verarbeitet wurde, was die Gruppe gesagt hat. Und wir haben auch dafür Raum gelassen, haben die Bilder angeschaut, die entstanden sind. Das führte dazu, dass der Prozess und die Ergebnisse optisch vorhanden sind und nochmal anders bewertet und anders verarbeitet werden. Die Prozesse zwischen den Menschen und in den Menschen werden dadurch anders, als wenn man da irgendwelche Worte an die Stellwände geschrieben hätte im Sinne eines Protokolls. Auch im Nachhinein hat es noch sehr gewirkt, indem man diese Bilder mitnehmen konnte. Die wurden dann bei Folgemeetings, die sie zwei Monate nach dem Workshop gemacht haben, aufgehängt. Das hat dann emotional nochmal zurückgebracht in den Raum des ursprünglichen Workshops, wo damals sehr gute Ergebnisse erzielt wurden. Auch dort gibt es dann eine Langzeitwirkung, wo die Kunst oder einen bildliche Darstellung nochmal einen verstärkende Wirkung hat. Die Wirkung hat uns alle sehr beeindruckt..
Ich habe im Übrigen auch mal eine andere, aber ähnliche Sache mit Trommeln gemacht. Wir hatten einen Workshop und haben – mehr als eine besondere Einlage – mit der ganzen Truppe getrommelt. Das hatte eine unglaubliche Wirkung. Vor dieser „Einlage“ war die Atmosphäre steif. Und in einer steifen Atmosphäre werden Themen halt auf eine bestimmte Art und Weise behandelt: sehr korrekt, sehr sachlich und auch ein wenig langweilig. Es kommt keine Kreativität auf. Man bewegt sich in den Bahnen, in denen man sich immer bewegt. Dann kam diese Trommeleinlage. Die ging über zwei Stunden und da brannte richtig die Luft. Es wurde sehr stimuliert, auch von dem, der das angeleitet hat, ein Musiklehrer, der das richtig gut gemacht hat. Es war plötzlich eine totale Euphorie in Raum. Danach, beim Weiterarbeiten an den Sachthemen, war alles völlig verändert. Die Atmosphäre war viel lockerer und viel kreativer. Es kamen Ideen und Vorschläge auf den Tisch, die waren vorher undenkbar. Da sind also durch diese Art Kunst oder Kunsteinlage auf einer ganz anderen Ebene Zugänge geschaffen worden, und es sind Sachen passiert, die einfach phänomenal sind. Die hätte es sonst nicht gegeben.
Guido Kratz:
Da wurde Kunst als Stimulationsmittel eingesetzt, also nicht als künstlerischer Prozess in dem Sinne, sondern als Stimulation. Es gibt ja auch die vielen Wahrnehmungsübungen, die man mit Kunst machen kann. Wenn man davon ausgeht, dass ich nur etwas denken, verarbeiten oder mir vorstellen kann, wenn ich vorher etwas wahrgenommen habe. Wenn man zum Beispiel über ein Bild nachdenkt oder sich eine Skulptur anschaut und sich darüber austauscht, was nehme ich überhaupt wahr. In vielen Unternehmen werden solche künstlerischen Kurse auch in der Ausbildung verwendet. DM macht das, Rossbach macht das.
Stefan Fourier:
Was ich aber glaube ist, dass das eigene Tun wesentlich mehr bringt als das Betrachten von etwas. Wenn man irgendein Kunstwerk betrachtet, da taucht die Frage auf: Wo gibt es eine Resonanz. Wenn man aber etwas macht miteinander, dann ist die Resonanz auf jeden Fall da. Und die Resonanz miteinander ist da. Also ich glaube, etwas selbst zu tun, unter Anleitung, unter künstlerischer Anleitung, ob das Tanz ist oder Musik oder Bildnerisches , das ist noch mal eine andere Qualität.
Guido Kratz:
Vor allem, wenn es darum geht: „Wir haben gemeinsam ein Werk geschaffen. “Das passiert ja bei den Netzwerkbildern – Wir haben etwas gemeinsam geschaffen. Das verändert oft in jedem einzelnen etwas. Ich weiß nicht mehr, welcher Manager das war, aber er sagte sinngemäß. „Wenn Menschen miteinander künstlerisch arbeiten, dann entsteht nicht unbedingt etwas für eine Galerie, aber es entsteht etwas Neues in jedem einzelnen Menschen, der da mitgemacht hat.“
Stefan Fourier:
Da verleiht sich das WIR einen Ausdruck. Und das ist wichtig, weil das WIR – ja was ist das eigentlich? Meistens sind wir ja im ICH. Dieses WIR zu erleben, das kann man zum Beispiel im Fußballstadion. Wenn dann der Beifall hoch geht, dann erlebst du das WIR. Das kann man aber auch, indem man gemeinsam etwas schafft. Auch dann drückt sich WIR aus. Und das ist, denke ich, einen wichtige Komponente, die da weiter wirkt.
Früher war ich mal der Meinung, das es nach solchen gemeinsamen Erlebnissen gut ist, wenn man dann hinterher nochmal analytisch reflektiert. Ich glaube das inzwischen nicht mehr. Weil wenn man das macht, zerredet man es. Man zerrt das, was sozusagen im Bauch der Leute, im Untergrund, auf der Hinterbühne, im Wertebereich passiert, man zerrt es ans Licht und analysiert es, man zerredet es. Und ich glaube, das ist eher kontraproduktiv. Also wir unterscheiden ja, wenn wir uns ein soziales System anschauen Vorderbühne und Hinterbühne. Vorderbühne ist alles das, was man ansprechen kann, was man messen kann, was man tut, was da niedergeschrieben steht, alles, was passiert an Arbeitsprozessen – das alles ist Vorderbühne. Die Hinterbühne, das sind Werte. Die Hinterbühne bestimmt, wie die Dinge auf der Vorderbühne getan werden. Das kann mit Herzblut gemacht werden oder mit Widerwillen. Das bestimmt die Hinterbühne. Die Frage ist, wie beeinflusst man die Hinterbühne? Und wenn ich jetzt Dinge, die in der Hinterbühne passieren, die ich auch wahrnehmen kann, wenn ich die jetzt anfange zu sezieren, ziehe ich sie auf die Vorderbühne und da verlieren sie ihre Wirkung. Sie verlieren ihre Macht, die Macht der Hinterbühne. Ist so ein bisschen ähnlich wie bei Kirche. Die katholische Kirche, vor allem die Ostkirche, hat durch das Gold, durch die Gesänge, durch den Prunk, eine tiefe Wirkung auf Menschen – der Protestantismus nicht. Ist letztlich Aufklärung, wird alles verwissenschaftlicht und versprachlicht. Das Geheimnis verschwindet, und damit geht man aus dem Hintergrund raus und ist im Vordergrund und damit wird es kalt. Es wird natürlich auch klar, das ist ein Vorteil, vorne ist es klar, hinten ist es unklar, unscharf und für manche auch gefährlich.
Guido Kratz:
Aber es hat eine mächtige Symbolkraft
Stefan Fourier:
Absolut. Dort sitzen die Symbole. Und Kunst sitzt dort. Deswegen, denke ich, ist es gut, damit etwas zu machen und diesen Bereich mit einzubinden und ihn nicht mit nach vorne zu zerren und dann am Ende eine Analyse zu machen.
Guido Kratz:
Das ist ein guter Hinweis, Vorderbühne, Hinterbühne, das hätte ich jetzt so klar nicht sagen können. Aber was ich selber tatsächlich auch erlebt habe, dass diese Diskussionen hinterher auch gar nicht funktioniert haben. Man kann sich hinterher das Bild angucken und das Gefühl mitnehmen, gemeinsam etwas Ungewöhnliches und Außerordentliches vorangebracht zu haben.
Stefan Fourier:
Man muss nicht darüber reden. Manche Coaches neigen ja dazu, dann so ihre Schlauheiten von sich zu geben – ich finde es kontraproduktiv! Am Besten ist es, wenn man so eine Arbeit, die tiefer geht, kurz vor dem Ende macht, bevor die Leute schlafen gehen, weil in der Nacht, in den Träumen, da passiert manchmal ganz viel. Ich habe es ganz oft erlebt, die Teilnehmer gehen abends auseinander, in einer harten Situation, Streit oder wie auch immer und ich überlege die halbe Nacht, wie ich das morgen früh wieder hinbekomme, dass sie wieder miteinander reden und gemeinsam um Lösungen kämpfen, statt gegeneinander. Und dann kommen sie am Morgen in den Raum und alles ist gut. Sie sind wieder zusammen, die Nacht hat gearbeitet. Es passieren Dinge im Hintergrund.
Guido Kratz:
Wenn man einen Künstler in ein Unternehmen einlädt oder in einen Beratungsprozess einbindet, was müssen die für Voraussetzungen mitbringen, dass es klappt? Es gibt ja verschiedenste Arten von Künstlern und Künstlerinnen, Mentalitäten und was auch immer. Was müssen die Künstler, außer ihrer Profession noch können, damit es erfolgreich für ein Unternehmen oder einen Beratungsprozess ist?
Stefan Fourier:
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, eigentlich ist es andersherum. Wichtig ist, damit so etwas überhaupt zu Stande kommt und erfolgreich wirkt, muss der Verantwortliche im Unternehmen einfach verstehen, dass ihm das hilft. Wenn der Chef das nicht versteht, dann kann der Künstler herausragend sein, das ist völlig egal. Und wenn er es versteht, dann wird er den Künstler einladen. Ich denke, der Künstler sollte sich zurücknehmen, er sollte seine Kunst nicht als das allein seligmachende betreiben und missionieren. Das ist immer schlecht,. Sondern er muss zuhören und Angebote machen. Aber der Verantwortliche im Unternehmen, der muss etwas daraus machen. Ihm muss es um die Resonanz gehen. Es ist wie bei der Kommunikation. Da denken wir immer, Sender – Empfänger. Der Sender ist wichtig – der ist aber völlig unwichtig. Wichtig ist der Empfänger. Der Sender sagt irgendetwas, wichtig dafür, dass es funktioniert, ist nur der Empfänger. Bei dem gibt es Resonanz, oder eben nicht. Der Sender muss natürlich auch irgendetwas tun, aber im Grunde gibt er erst mal nur seine Botschaft ab. Ob die verstanden wird und wie sie verstanden wird, ist nicht mehr sein Ding. Das ist nur Sache des Empfängers. Wenn der Künstler sein Angebot macht, ist es nur Sache des Auftraggebers, dass er versteht „oh, das ist gut für mich oder gut für uns“, nehme ich, machen wir etwas draus. Und dann kommen sie ins Gespräch. Der Künstler selber muss bei sich bleiben. Wenn er sich verbiegt, wird es sowieso Mist.
Guido Kratz:
Es gibt eine Sache, die finde ich bei künstlerischen Prozessen sehr wichtig. Witzigerweise wird diese Sache in deinem Buch „Die Sandwich Connection“ am Schluss noch einmal aufgegriffen. Und zwar ist das die Absichtslosigkeit. Es ist ja so, wenn ich einen Prozess mache und es ist egal ob das mit Keramik ist oder mit Malerei, und ich habe irgendetwas Fertiges, wo ich hin will, da würde ich sagen, das ist eher eine handwerkliche Tätigkeit. Handwerk ist hochwertig, man muss sehr viel können, zum Beispiel ein Musiker im Symphonieorchester sieht sich auch eher als ein Handwerker, das ist HighEnd, man braucht viele, viele Jahre bis man da hin kommt, aber es ist Handwerk. Es muss ja nun in der Kunst irgendetwas geben was darüber hinaus geht. Über dieses viele Können hinaus. Das Absichtslose in deinem Buch weist darauf hin. Kann man dann dein Netzwerk, die drei Kreise, die in deinem Buch beschrieben werden, als künstlerische Installation sehen?
Stefan Fourier:
Lacht. Naja ja!
Guido Kratz:
Ja das ist ein sehr schönes Bild und da schließen sich jetzt einige Fragen an. Aber erst mal möchte ich fragen, ist diese Absichtslosigkeit überhaupt zu vermitteln? Der Künstler möchte ja gerne den Auftrag bekommen, den Prozess begleiten, und wenn er da mit Absichtslosigkeit argumentiert, da stelle ich mir das schwierig vor.
Stefan Fourier:
Naja, vielleicht ist in dem Zusammenhang Absichtslosigkeit gar nicht das richtige Wort, sondern eher sich selbst zu genügen. Oder seiner Kunst zu genügen. Es ist so, wenn du etwas auf einen ganz bestimmten Zweck ausrichtest, dann bist du im Handwerk. Und das ist ja auch nicht schlecht. Auch einen Kontakt aufzubauen, zu jemanden – das war ja mein Thema im Buch – mit der Absicht ihm etwas zu erkaufen, ist ja nicht ehrenrührig. Wenn ich aber will, das jemand mich unterstützt, also auf mich zugeht, offen für mich ist, dann darf meine Absicht, ihm etwas zu verkaufen, keine Rolle spielen. Er kann zwar irgendwann vielleicht etwas von mir kaufen, aber im Vordergrund für mich muss stehen das Interesse an diesem Menschen, an dem Gespräch, das Interesse an einer Sache, an einer Firma, an irgendeinem Thema, das uns verbindet. Und dieses Interesse muss echt sein. Das ist es, was ich mit dieser Absichtslosigkeit meine. Wenn ich aber denke, ich tue jetzt mal so, als wäre ich an ihm persönlich interessiert, nur weil ich ihm etwas verkaufen will, das geht schief. Und wenn der Künstler das macht, weil er einen Auftrag haben will, dann wird es vielleicht mal klappen. Er wird vielleicht den Auftrag bekommen, aber er kann ihn nicht gut erfüllen, weil er sich verbogen hat. Der Punkt ist – und das ist immer zweischneidig: Wir glauben immer, wir müssen uns anstrengen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, einen Abschluss zu kriegen. Das stimmt aber nicht. Der Auftrag entsteht, weil er dran ist, weil alles passt. Und das passt vorher schon. Im Gespräch wird das nur deutlich. Ich sage oft: Es ist alles schon passiert, wir haben es nur noch nicht gemerkt. Ich kann dir sagen, diese Herangehensweise ist ganz schön entspannend. Das gilt für einen Künstler genauso wie für mich oder für Leute, die Netzwerkmarketing machen.
Ich gebe ja zu, diese Sichtweise ist schon ein bisschen ungewöhnlich. Ich meine, weil du vorhin die Frage gestellt hast, ob die Leute das so einfach verstehen oder akzeptieren. Nein, natürlich nicht! Die meisten Leute sind nicht so gepolt, sie verstehen das nicht. Sondern sie denken „Ziel“ und auf das Ziel muss ich lossteuern. Und dann kriege ich, was ich will. Doch so funktioniert es nicht. Je komplexer die Welt wird, je bunter, je überraschender, desto weniger funktioniert es so direkt. Wir sehen es in Vielem, auch in Unternehmen. Sie haben alle ihre Ziele, haben alle ihre Zielvereinbarungen. Aber wenn sie zu starr daran festhalten, dann wird es schwierig. Man muss mit den Dingen eher spielen, und man muss sie offen lassen und gucken, was ist da, womit kann ich arbeiten.
Guido Kratz:
Man spricht ja von geschlossenen und offenen Systemen. Wenn wir zum Beispiel eine Maschine konstruieren wollen, dann müssen wir wissen, was muss diese Maschine alles können. Irgendwann ist klar, was sie können muss, es gibt feste Parameter und dann wird diese Maschine gebaut, das System wird also geschlossen, um die Maschine zu bauen. Und wenn die Maschine gebaut ist, dann hat man ein geschlossenes System, das nach den vorher definierten Parametern läuft. So sehen sich ja viele Unternehmen auch, zum Beispiel Handwerksbetriebe, die etwas nach genau definierten Parametern produzieren. Und gleichzeitig ist es ja so, dass durch den Einfluss von außen, neuen Mitarbeiter, neue Anforderungen, ein sich verändernder Markt, das System dann ja offen ist, denn es ändert ständig seine Parameter. Und nun das Zitat eines Managers: Ich muss nun ständig das Kunststück fertig bringen, zwei Systeme, eines ist offen, eines ist geschlossen, die nebeneinander herlaufen, zu moderieren. Einerseits brauche ich ja meine definierte Qualität, entweder an Dienstleistungen oder an Produkten, das wäre also das geschlossene System, anderseits verändern sich viele Prozesse – das ist das offene System. Und das ist für ihn, sagt er, das Indiz für einen künstlerischen Prozess. Er muss eine Sache tun, die eigentlich paradox ist.
Stefan Fourier:
Der Punkt ist, es gibt keine geschlossenen Systeme, das ist ein fundamentaler Irrtum. Das ist physikalisch unmöglich. Wir definieren geschlossene Systeme, indem wir Teile der Wirklichkeit ausblenden und einfach sagen das gibt es jetzt mal nicht, wir beschränken uns mal. Man nennt das Komplexitätsreduzierung. Kann das machen, darf aber nie vergessen, dass es nur eine Definition ist. Die Wirklichkeit ist immer offen, ist immer ein offenes System. Und wenn ich es einenge auf eine Maschine, dann wird diese Maschine immer den äußeren Einflüssen ausgesetzt, also auch offen sein. Ich kann mir zehnmal denken, sie ist jetzt fertig und ist marktgerecht und in dem Moment, wo der Markt sich ändert, ist sie es eben nicht mehr. Kommt ein anderer Rohstoff hinzu, funktioniert sie nicht mehr. Die Maschine ist niemals ein geschlossenes System. Ich bilde es mir nur ein. Das macht zunächst mal nichts und ist völlig normal, schließlich man muss ja bestimmte Definitionen schaffen. Aber man muss sich immer klar darüber sein, dass man es nur mit einer Definition zu tun hat und nicht mit der Wirklichkeit. Nur dann entgeht man der Gefahr, die Definition für die Wirklichkeit zu halten. In diese Falle laufen viele Leute, die sich abkapseln. Der Versuch, sich abzukapseln und zu denken, dann wird es einfacher, das ist nur ein „Kopf in den Sand stecken“. Man blendet einen Teil der Wirklichkeit aus und denkt jetzt, hier ist es heil. Das stimmt aber nicht! Das ist nur so definiert. Und deshalb macht man sich da etwas vor – je komplexer die Welt wird, um so gefährlicher ist das.
Guido Kratz:
Ich habe gerade, während du das erzähltest, gedacht, das stimmt alles hundertprozentig, das kann ich nur unterschreiben, klingt kompliziert, ist es aber nicht. Aber womit transportiere ich am besten dieses „Einfache“? Mir ist das Bild von einem Jazzkonzert in den Sinn gekommen, die frei miteinander spielen, die kein festgelegtes Musikstück vor sich haben und die jetzt situativ entscheiden müssen, wie sie ihr Instrument rein bringen, wieder raus nehmen und so weiter. Im Grunde genommen wäre das jetzt ein Bild dafür, wie man Komplexität und den Umgang damit darstellen kann. Wiederum ein Plädoyer für Kunst in Unternehmen, weil die Jazzband etwas so kompliziertes wie Komplexität, elegant darstellt. Indem man Komplexität fühlen, erleben kann.
Stefan Fourier:
Es gibt so eine wunderschöne Übung: 10, 15 oder zwanzig Leute in einem Raum, dann machen die mal die Augen zu und singen Töne über eine längere Zeit. Das Interessante ist, die versuchen irgendwann alle in der gleichen Tonlage zu singen, dann schwingt mal jemand ein wenig heraus, dann wird mal einer ungeduldig und singt mal schräg. Und wenn man dann mal den Ton beobachtet und wie er im Raum wandert und wie man seine eigene Stimme zu diesem Ton dazu legen kann und wie er sich dadurch verändert. Dann wird fühlbar, wie kleine Einflüsse das Gesamte verändern, ohne dass das direkt passiert.
Guido Kratz:
Ja, das ist ein schönes Schlusswort, ich danke dir für das Gespräch.
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